Abstract:
Die Novelle Die Kreutzersonate des berühmten russischen Autors Lew Tolstoi, die zuerst in 1889 erschien, gilt, trotz ihres marginalen Charakters in der Tolstoi-Rezeption und im Vergleich zu Krieg und Frieden oder Anna Karenina, als eines seiner erschütterndsten weltliterarischen Werke. Im Mittelpunkt der Handlung steht der begangene Mord des Protagonisten Posdnyschew an seiner Ehefrau, der er ehelichen Betrug mit dem jungen Musiker Truchatschweskij vorwirft. Diese unerhörte Begebenheit wird dementsprechend durch die gleichnamige Violinsonate Beethovens motivisch dargestellt, und thematisiert zugleich die um die Fin de Siècle in crescendo entstehenden Desillusionierungen eines untergehenden Adels und sich erschöpfenden Fortschrittsglaubens. Daher lässt sich über die diskursiven und kritischen Funktionen jenes Textes fragen. Diese Novelle kann als zivilisations- bzw. kulturkritisches Zeitdokument betrachtet werden, das nicht nur ethisch-moralische und existenzielle Fragen hervorruft, sondern auch das Wertemuster und die Utopien der Aufklärungszeit sowie ihre Programmatik einem kritischen Blick unterzieht. Die im neunzehnten Jahrhundert kulturell und sozial dominante Teleologie einer frenetischen Fortschrittsideologie und die Kontrollmechanismen der Industriegesellschaft werden hiermit am Beispiel eines novellistischen Enzelfalls entlarvt. Der vorliegende Aufsatz setzt sich also zum Ziel, die kulturkritischen Dimensionen jenes Werkes an den Tag zu legen.